2024
Gülbin Ünlü
So viel Innovation war nie
Ein Atelierbesuch bei Gülbin Ünlü — Preisträgerin des »Zeitsicht Art Award« 2024
Im ersten Moment klingt es wie ein Widerspruch: »Nachahmung ist die echte Innovation.«
Wir treffen Gülbin Ünlü in ihrem Atelier in der Münchner Ludwigsvorstadt — hier, zwischen Goetheplatz und Altem Südfriedhof, ist die Landeshauptstadt noch recht bodenständig und lässt trotz fortschreitender Gentrifizierung noch Raum für Künstler. Vorm Hinterhaus geht’s eine Rampe runter und durch eine Stahltür ins überraschend große Souterrain, weißgetünchtes Tonnengewölbe, die Holzscheite im Schwedenofen spenden Wärme. Hier arbeitet seit mehr als zehn Jahren die neue Preisträgerin des »Zeitsicht Art Award 2024«, der in diesem Jahr erstmals offiziell von der Stadt Augsburg übergeben wird.
Natürlich wollen wir mit ihr über ihren interdisziplinären Ansatz sprechen, bei dem Ünlü Malerei, Fotografie, Installation, Video, Performance und Audio vereint. Darüber, wie es sich anfühlt, als Münchnerin mit türkischen Wurzeln eine Wandlerin zwischen den Welten zu sein —gerade in so unsteten Zeiten wie diesen. Und erst recht darüber, wie Technologie heutzutage Kunst und ihre Arbeit als Künstlerin verändert.
Aber vor allem hat es uns ihr Zitat angetan, das sie neulich im Kontext einer Ausstellung der Münchner Galerie Jahn & Jahn formulierte. »Nachahmung ist die echte Innovation.«
»Wenn man zurückblickt, ist doch keine Erfindung völlig losgelöst von bestehenden Ideen«, erklärt Ünlü. »Erst indem wir als Künstler:innen unser eigenes Umfeld wahrnehmen und uns bewusst mit seinem Einfluss auf uns auseinandersetzen, entwickeln wir eine Eigenständigkeit, die es uns ermöglicht, bestehende Positionen weiterzuentwickeln.«
Innovation als das Adaptieren bestehender Ideen, die durch das eigene Erleben und die persönliche Biografie zu etwas Neuem transformiert werden? Es klingt nicht gar so spektakulär wie die angebliche Eingebung, die manche:n Erfinder:in überkommen haben soll, sodass sie gar nicht anders konnten, als disruptiv Neues zu erdenken. Aber zweifellos ist es die viel realistischere Sicht auf das Thema Innovation, die Ünlü beschreibt.
Dinge zu kombinieren, die zumindest anfangs nicht zu passen scheinen, das ist ohnehin Ünlüs Leitmotiv. Etwa in ihren gemalten Teppichen: Den größten hat sie für ihre Diplomarbeit 2018 an der Kunstakademie in ihrer Heimatstadt München realisiert: Ünlü malte mit großer Detailliebe einen täuschend echt aussehenden, 60 Quadratmeter großen Teppich. Wer durch den Raum geht, hat zwar die optische Wahrnehmung eines Teppichs, erlebt tatsächlich aber eine Art Malerei Installation.
Vielleicht reflektiert diese Hybridität auch ihre eigene Erfahrung als Deutsch-Türkin: »Denn in der Türkei bin ich ,almanci’, und hier werde ich als Türkin gelesen.« Eine Wandlerin zwischen den Welten — biografisch und künstlerisch.
In »waiting faster« sind es Installation, Malerei und Druck, die Ünlü kombiniert, und damit einen hybriden Prozess des Bildermachens schafft, der ihr erlaubt, frei mit digitalem und analogem Material umzugehen.
»waiting faster«, 2022
Akademie der bildenden Künste, München, 2018
Um diese spezielle, selbst entwickelte Technik zu verstehen, folgen wir ihr durch ihr Atelier. Auf Tapeziertischhockern aufgebockt steht ein massiver flacher Drucker, davor liegen Kunststoffe. Diese nutzt sie, um gedruckte Fragmente fluider Tinte auf vorbereitete Leinwände zu übertragen und nass-in-nass ineinander zu vermalen. So entstehen, Schicht für Schicht ihre so markanten Werke, die handwerklich vermutlich einzigartig sind.
Ihre Arbeiten haben ihr bereits einiges an Aufmerksamkeit zuteil werden lassen — und das, ob-wohl Ünlü qua Biografie eigentlich keine Künstlerinnen-Karriere vorhergesehen ist. »Meine Familie war auf vielen Ebenen künstlerisch aktiv, aber für uns als Arbeiter:innen war klar: Tagsüber gehst du arbeiten, und dann machst du das in deiner Freizeit. Dass ich eine akademische Laufbahn als bildende Künstlerin einschlagen kann, war für mich überhaupt nicht präsent.«
Entsprechend versuchte sie nach der Schule auch erst einmal, anderweitig ihr Geld zu verdienen — als Türsteherin, als Fotoassistentin, saisonal als Nikolaus-Darstellerin. Sie begann sogar eine Ausbildung zur Verlagskauffrau. »Doch egal, was ich gemacht hab, es waren für mich alles nur Jobs.«
Über Künstler-Freund:innen kam sie 2012 an die Kunst-akademie. Schon während des Studiums erhielt sie diverse Auszeichnungen und Stipendien — 2022 dann sogar den Förderpreis für Bildende Kunst der Stadt München und im Jahr darauf den Bayerischen Kunstförderpreis. Ünlüs Arbeiten sind europaweit ausgestellt worden — allein 2023 und 2024 etwa der Türkei, den Niederlanden und der Münchner Pinakothek der Moderne. 2025 geht es für sie unter anderem nach Lissabon. Aktuell vertritt sie zudem den Lehrstuhl für Malerei und Grafik ihres ehemaligen Akademie-Professors Markus Oehlen.
TAF Performance »Post Everything«,
Münchner Kammerspiele, 2024,
Foto: Andrea Huber.
Und damit nicht genug, Ünlü ist auch Musikerin: Sie singt und musiziert aktuell in einer Performanceband namens »TAF” — kurz für»Türkisch-Armenische Freundschaft«. Auch als DJ Ü ist sie aktiv. Die Musik spiegelt ihre Leidenschaft, schwer Vereinbares zu vereinen — hier sind es zeitgenössische Einflüsse und persönliche musikalische Erinnerungen. Die Münchner Kammerspiele, wo TAF zuletzt auftrat, fanden einen sehr markanten Namen für diese Kombination: »Post-SciFi-Orient-Vibes.«
Nach »Post-SciFi« fühlt sich gegenwärtig auch eine andere Entwicklung an, die Ünlü fasziniert: Künstliche Intelligenz. Sie begann bereits in den 2010er-Jahren, also lange vor ChatGPT, mit Generativer Künstlicher Intelligenz (GenAI) zu experimentieren. Ihr Science-Fiction-Faible hatte sie neugierig gemacht. Zunächst arbeitete sie mit Texten, die sie mithilfe von KI in Versform umarbeiten ließ. Heute setzt sie vor allem die beiden gängigsten Software-Lösungen Midjourney und DALL-E ein, um visuelle Ideen zu generieren, die sie anschließend fragmentarisch analog überträgt und neu kombiniert.
Aber hat sie denn gar keine Angst davor, dass die Technik künftig ihre künstlerische Autonomie gefährdet und sie eventuell irgendwann überflüssig macht? Die Münchnerin schüttelt den Kopf, die folgenden Sätze hat sie vermutlich schon häufiger gesprochen, so klar sind sie formuliert: »KI ist für mich nur ein Tool. Ein sehr leistungsfähiges Werkzeug für kreative Experimente, wie ein riesengroßes visuelles, aktives Archiv, das mir neue Ideen gibt und Räume erschließt.« In diesem Sinne sei GenAI nur die logische Fortführung Ihrer Arbeit mit persönlichen und öffentlichen Archiven, aber auch der Kunstgeschichte und der Popkultur. »Aber der Prozess ist der gleiche: Am Ende entscheide immer ich, wie das Bild aussieht.«
Die Angst vor Neuem und damit auch die Angst, am Neuen zu scheitern sei ihr fremd: »Scheitern gehört dazu. Im Fehler passieren oft spannende Dinge oder öffnen sich ganz neue Fehler.« Ein markanter Satz: der Fehler, oder eher der Folgefehler, als neue Qualität. Ünlü löst es auf: »So bin ich oft überhaupt erst auf neue Techniken und Kombinationen gekommen.«
Auch um die Zukunft ihrer Zunft macht sie sich wenig Sorgen: Dass Künstliche Intelligenz der Künstlerischen Intelligenz den Rang ablaufen werde, glaubt sie nicht. »KI hat keine emotionalen Erinnerungen, ist weder persönlich, noch kann sie — anders als wir Menschen — bewusst vom Mainstream abweichen.«
Ein Beispiel dafür, das einiges Aufsehen verursacht hat, war ihre Ausstellung im Kunstpavillon im Alten Botanischen Garten in München. Der dunkle Steinfußboden stammt noch aus der NS-Zeit. Gülbin Ünlü nahm ihm seine Schwere, indem sie ihre Bilder auf den kalten Fliesen auslegte und die weißen Wände frei ließ: eine völlig andere Art der Kunstbetrachtung — oder eher -begehung. Solche Interventionen ziehen sich durch ihr ganzes Werk.
Was sie beschäftige, sei, wie die Geschwindigkeit der technologischen Entwicklungen die Kultur und Gesellschaft beeinflusse: Mit KI-Tools haben wir allein in den vergangenen 2 Jahren mehr Bilder erzeugt, als Fotografen in den 150 Jahren zuvor.
Natürlich sei diese Masse eine Herausforderung, sagt Ünlü, wenn es darum gehe, den Wert und die Authentizität von Kunst zu bewahren. Aber der Fotografie-Vergleich ficht sie nicht an: Denn was sei passiert, als die Fotografie erfunden und Ende des 19. Jahrhunderts auch praktikabel nutzbar wurde? Damals habe die Kunst ihre Funktion der Abbildung verloren — woraufhin die abstrakte Malerei sich Bahn gebrochen habe, eben weil Freiraum für neue Tätigkeiten war und man nicht mehr tagein, tagaus Landesherren in Öl porträtieren musste.
Nachdenklich wird Ünlü nur mit Blick darauf, was KI mit unserer Gesellschaft macht. Sie wohnt mit ihrem Partner und ihrer Hündin hier in der Stadt. Der Oktoberabend zieht durch die gekippten Atelierfenster hinein, sie legt einen Holzscheit nach. »Es geht so schnell, dass man kaum Zeit hat, etwas zu durchdringen und zu verfestigen, bevor es schon wieder überholt ist. Das Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige mischen sich ständig.« Dazu kommt, dass viele Menschen noch sehr ungeübt sind im Umgang mit GenAI und daher deren »Lügen«, auch »Halluzinationen« genannt, und bewusste Deepfakes, nicht erkennen und für bare Münze nehmen.
So gefährlich der Missbrauch von KI gesellschaftlich ist, so spannend findet Ünlü die Ursache der Halluzinationen: »Die KI lügt ja im Versuch der Nachahmung«, erklärt sie das Grundprinzip großer KI-Sprachmodelle, die immer die wahrscheinlichsten Antworten auf Basis der Trainingsdaten finden. Und dort, wo es nicht ausreichend Daten gibt, fängt die KI an zu halluzinieren, also aus einem scheinbaren Bewusstsein heraus eigene Antworten zu formen: Oder ist es sogar schon eine Art Bewusstsein? So oder so: Plötzlich entsteht durch den Versuch der Nachahmung tatsächlich Neues.
Und das ist — um mit Gülbin Ünlü zu sprechen — echte Innovation.